Ausstellung

Zheng Mahler: Mutual Aid

14.7.2016 bis 13.11.2016 | Johann Jacobs Museum

Mutual Aid lautet die zweite Ausstellung des Künstlerduos Zheng Mahler (Hongkong) im Johann Jacobs Museum Zürich. Wie bei A Season In Shell (2014), ihrer ersten Ausstellung, folgen sie einer ebenso spekulativen wie empirisch untermauerten Recherche in die Mysterien des globalen Handels zwischen Europa, China und Afrika.

Es waren Uhrenmacher aus dem Jura, die sich zur sogenannten „Juraföderation“ zusammenschlossen. Weit oben in den Bergen begründeten sie eine Form des gemeinsamen Arbeitens und Lebens, die jeglicher staatlichen oder religiösen Regierung abschwor. Die einzelnen Arbeitsschritte in den selbstverwalteten Manufakturen von La Chaux-de-Fonds griffen dabei so präzise ineinander wie die sprichwörtlichen Rädchen des Uhrwerks.

Tief beeindruckt von diesem sozialen Experiment, verfasste der russische Anarchist, Biologe und Aristokrat Pijotr Kropotkin nach seinem Besuch im Jura das Pamphlet über die Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902). Damit wandte er sich nicht zuletzt gegen Darwins Evolutionstheorie.

Uhren waren nahezu das einzige westliche Gut, das vor dem ebenso strengen wie hochästhetischen Blick des chinesischen Kaisers Bestand hatte. Umgekehrt war der westliche Bedarf nach Tee, Porzellan, Seide und anderen chinesischen Produkten unermesslich. Um der Nachfrage gerecht zu werden, hatten die chinesischen Porzellan- und Teeproduzenten bereits im 18. Jahrhundert vorindustrielle Arbeitsformen entwickelt. Damals wurden in Jingdezhen täglich bis zu einer Million Stücke Porzellan gefertigt, um in alle Welt verschifft zu werden. Von einer solchen Produktivität konnte Europa nur träumen, lernte seine Lektion aber bald mit Hilfe von Gouachen, welche die Produktionsabläufe dokumentierten.

Da China vornehmlich Silber und Gold als Handelsgut akzeptierte, blieb den Westlern angesichts ihrer horrenden Leistungsbilanzdefizite bald nichts anderes mehr übrig als Kriege mit China anzuzetteln, die nicht nur die chinesische Ökonomie, sondern in der Folge auch das gesamte Kaiserreich zerstörten. Das Kropotkinsche Prinzip der „gegenseitigen Hilfe“ wurde nach der kommunistischen Machtübernahme in China heimisch. Bis heute bildet es einen zentralen Pfeiler der modernen chinesischen Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, insbesondere mit Afrika.

Die Schweiz. Die Uhr. Die Anarchie.

Es gab Zeiten, da bildete ein Kunstwerk eine in sich geschlossene Form – sei es als Marmorstatue, Historienbild oder Schwarzes Quadrat. Diese Zeiten scheinen vorbei. Zeitgenössische Kunstwerke sind ihrem Wesen nach verstreut: Sie bestehen aus verschiedenen, manchmal auch unvereinbaren Elementen, die sich zu einer Einheit zusammenschliessen können, dies aber nicht von sich aus tun. Vielmehr bedürfen besagte Elemente der imaginären Kollaboration der Betrachterin oder des Betrachters, um zueinander zu finden.

Mutual Aid ist ein solches zeitgenössisches Kunstwerk. Es widmet sich einer globalen oder, vielleicht besser, transnationalen Realität, in der sich die Juraföderation der Schweizer Uhrmacher mit der Sammelleidenschaft eines chinesischen Kaisers und die politischen Beobachtungen eines russischen Aristokraten mit der westlichen Vorliebe für chinesische Produkte wie Seide, Porzellan und Tee verbinden. Der Überforderungscharakter eines solchermassen „verstreuten” Kunstwerks liegt darin, dass wir bei der Auflösung seiner Bedeutungsknoten nicht schön der Reihe nach vorgehen können. Alle Hinweise und Anspielungen sind immer gleichzeitig präsent und verweisen in einem hermeneutischen Zirkel aufeinander.

Wobei, das mit der Gleichzeitigkeit stimmt nicht ganz. Es gibt in Mutual Aid einen Film mit dem Titel Die Berge sind hoch und der Kaiser ist weit entfernt, der mit ruhigen, konstruktiven Bildern und einer wohlklingenden, aber unverständlichen Stimme eine seltsame Geschichte erzählt. Bis zu einem gewissen Grad entspricht diese Geschichte derjenigen des Künstlerpaares Zheng Mahler.

Beide bestritten schon einmal eine Ausstellung im Johann Jacobs Museum, bei der es um aktuelle Handelsbeziehungen zwischen Afrika und China ging (A Season in Shell, 2014). Statt diese Handelsbeziehungen mithilfe ebenso wohlgefälliger wie abgedroschener Videoaufnahmen zu dokumentieren, wie man das sonst aus der Kunstwelt gewohnt ist, hatten sich die beiden entschlossen, das Museum zum Schauplatz einer Transaktion zu machen. Sie kauften zwei Tonnen Abaloneschalen von einem somalischen Asylbewerber in Hongkong, leiteten die Ware aus Somalia über Zürich um, lagerten sie im Museum ein (das war die Ausstellung), und verkauften die Schalen schliesslich weiter an eine Fabrik in Guangdong, die darauf spezialisiert ist, das glänzende Perlmutt von der äusseren Kalkschale zu befreien. Dieses Perlmutt wird unter anderem von der Schweizer Uhrenindustrie angekauft und verarbeitet. Und genau hier, bei diesem Rückfluss des Perlmutt, setzt Mutual Aid ein…

Zheng Mahler gelangten auf den Spuren des Perlmutt nach La Chaux-de-Fonds, einem Zentrum der hiesigen Uhrenindustrie. Bei ihrer Recherche, die sie unter anderem in die Fertigungshallen der Firma Tag Heuer führte, stiessen sie auch auf die Geschichte der Juraföderation. Dies war eine 1871 gegründete Arbeits- und Lebensgemeinschaft von Uhrmachern, deren soziale Ordnung dem anarchistischen Leitprinzip „ohne Gesetze und Autorität“ entsprach. Dazu gehörte auch eine streng arbeitsteilig organisierte Produktion: Anstatt eine Uhr komplett von Anfang bis Ende zusammenzubauen, stellte jedes Föderationsmitglied in fleissiger Heimarbeit jeweils nur ein Teilchen her. Dieses Prinzip sparte nicht nur Zeit, sondern verteilte zudem das unternehmerische Risiko auf die ganze Gemeinschaft.

Das schweizerische Gesellschaftsexperiment, das Arbeit, Leben und Selbstbestimmung erfolgreich miteinander verband, zog aus ganz Europa Intellektuelle und Aktivisten an. Auch Peter Kropotkin (1842-1921), ein russischer Aristokrat, Biologe und Geograph, der den Jura 1872 bereiste, zeigte sich tief beeindruckt von der anarchistischen Idee. Seine Erfahrungen im Jura verarbeitet er später in einem Buch mit dem Titel Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902). Dieses Buch, das einer der wichtigsten Texte der anarchistischen Bewegung werden sollte, wendet sich gegen die Darwin’sche Evolutionstheorie des „Survival of the Fittest“ (Überleben des Stärkeren), um stattdessen die menschliche Solidarität als die eigentliche zivilisatorische Basis auszuweisen. Im Centre International de Recherches sur l’Anarchisme (CIRA) in Lausanne stiessen Zheng Mahler auf eine chinesische Ausgabe des Buches von Kropotkin. Die Übersetzung stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert, einer Schlüsselepoche des modernen China, wo sich in Folge des Zusammenbruchs des Kaiserreiches ein gewaltiger Hunger nach neuen Ideen und alternativen Gesellschaftsmodellen regte. Diese Phase demokratischer Experimente, Kriege und Bürgerkriege endete 1949 mit dem Sieg der Kommunistischen Partei. Kropotkins Paradigma der „gegenseitigen Hilfe“ hat jedoch all die historischen Umschwünge überlebt und bestimmt noch heute die chinesische Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, insbesondere die gegenüber Afrika.

„Die Berge sind hoch und der Kaiser ist weit entfernt“ ist ein altes chinesisches Sprichwort, das sich unangestrengt auf die Freiheitsideale der Juraföderationen übertragen lässt. Die hohen Berge liefern aber auch den besonderen Rohstoff für das Porzellan, das über Jahrhunderte hinweg Chinas Exportartikel Nr. 1 darstellte. Dieser Rohstoff, genannt Kaolin, trägt den Namen seines Fundortes Gaoling, was soviel bedeutet wie „hohe Bergkette“. Mit dem assoziativen Sprung vom Jura nach Jingdezhen, der ehemaligen Porzellan-Hauptstadt in der chinesischen Provinz Jiangxi, gelangen wir auf die nächste Erzählebene. Diese handelt von der europäischen Faszination angesichts eines Materials, dessen ästhetische Qualität sich bis ins nahezu Immaterielle steigern lässt, wie die Virtuosenstücke aus der Zeit der Song-Dynastie (960-1276) beweisen (eine solche Schale ist auch in Mutual Aid zu bewundern). Bereits Marco Polo (ca. 1254-1324) hatte von seinen Asienreisen Porzellan nach Europa mitgebracht. Über Jahrhunderte aber sollte den Europäern die Zusammensetzung des Materials ein Geheimnis bleiben. Zunächst vermuteten sie, dass die Schale einer bestimmten Art von Meeresschnecke, die eine ähnlich transluzente Textur aufweist, die Materialgrundlage für das Porzellan lieferte. Damit wurde der porcellana, so der italienische Name dieser Schnecke, eine unverdiente Ehre zuteil.

Die europäische Nachfrage nach chinesischem Porzellan wuchs stetig und die chinesischen Manufakturen in Jingdezhen begannen nach genauen Auftragslisten und Designs holländischer und britischer Handelsgesellschaften zu fertigen – was regelmässig zu formalen Übersetzungsproblemen führte, beispielsweise wenn die chinesischen Porzellanmaler holländische Windmühlen als Blumen oder fürstliche Herrscher als liebreizende Damen interpretierten. Laut den Berichten von Jesuiten wurden Anfang des 18. Jahrhunderts in Jingdezhen bis zu eine Million Stücke produziert – pro Tag! Für die halbstaatlichen Handelsgesellschaften aus Europa erwies es sich jedoch als problematisch, dass die chinesische Seite kein sonderliches Interesse am Warentausch zeigte, sondern einzig Silber und Gold verlangte. Dadurch entstanden auf europäischer Seite gewaltige Handelsbilanzdefizite, die schliesslich im 19. Jahrhundert durch die Opiumkriege und die westliche Kolonialisierung einiger Hafenstädte (wie Hong Kong oder Shanghai) „ausgeglichen“ wurden.

Dass die Chinesen der westlichen Produktpalette vollständig indifferent gegenüberstanden, stimmt aber nicht ganz. Es gab immerhin ein Produkt, das ihren strengen Kriterien in Sachen Nutzen und Ästhetik standhielt, und zwar mechanische Uhren in jeder Grösse und Form. Insbesondere französische oder Schweizer Uhren hatten es dem Kaiser Qianlong angetan, dessen üppige Uhrensammlung im Palastmuseum von Beijing bestaunt werden kann. Die chinesischen Preisschildchen in den Uhrenhandlungen der Zürcher Bahnhofstrasse heutzutage kommen also nicht von ungefähr…

In einem weiteren ästhetischen Sprung beauftragten Zheng Mahler eine Werkstatt in Jingdezhen, die einzelnen Komponenten (Rädchen, Zylinder, Gehäuse usw.) eines Uhrwerks vergrössert in Porzellan nachzubilden. Die Oberflächen dieser Repliken wurden mit verschiedenen Glasuren überzogen.

Während einige der Repliken eine eigenartig-schillernde Oberfläche besitzen, die entfernt an den Glanz des Perlmutts erinnert, weisen die meisten Stücke eine krustige Aussenseite auf. Diese organische Textur stammt von dem Kalk der somalischen Abaloneschalen aus A Season in Shell, die Zheng Mahler der Glasur beigefügt haben. Insgesamt lässt sich wohl nicht abschliessend beurteilen, ob diese Objekte nun ästhetisch gelungen sind oder doch eher an eine hässliche Vase im Altersheim gemahnen. Zum Glück müssen wir uns aber nicht entscheiden. Die anti-ästhetische Komponente der Porzellanobjekte repräsentiert die konzeptuelle Intelligenz, die in diese Dinge geflossen ist (Kunst will ja alles andere als nur „schön“ sein, und weiss auch, warum).

Dokumentarisches Material schliesslich nistet in den Zwischenräumen von Mutual Aid. Ein chinesisches Poster aus den 1960er Jahren wirbt für das Prinzip der gegenseitigen Hilfe im Rahmen einer maoistischen Kampagne zur Optimierung der Landwirtschaft. Die Blätter mit den Bienen sind dem Buch Kropotkins zur gegenseitigen Hilfe im Tierreich entnommen. Reproduktionen von Gouachen, die ab dem späten 18. Jahrhundert in China für europäische Auftraggeber angefertigt wurden, zeigen die diversen Schritte der vorindustriellen Porzellanproduktion in Jingdezhen, vom Abbau des Kaolin bis zur Verschiffung der Ware. Diese Dokumente hocheffizienter Fertigungsprozesse haben europäische Unternehmer inspiriert, allen voran Josiah Wedgwood (1730-95), dem es in England gelang, Porzellan in Massenanfertigung herzustellen und so das chinesische Exportmonopol zu untergraben (der schwarze Deckel stammt von einem Wedgwood-Service, das in der Halle des Johann Jacobs Museums installiert ist).