Im ersten Teil der Ausstellungsreihe zu der italienisch-brasilianischen Architektin und Designerin Lina Bo Bardi stehen zunächst nicht ihre berühmten Bauten – wie die Casa do Vidro (1950-51), das MASP (Museo do Arte São Paulo, 1957-68) oder das Kultur- und Freizeitzentrum SESC Pompeía (1977-86) – im Mittelpunkt unseres Interesses, sondern ein unbekanntes, ja gescheitertes Vorhaben: das Museo do Arte Popular in Salvador da Bahia, der ersten kolonialen Hauptstadt Brasiliens. Diese barocke Metropole der „neuen Welt“, deren Reichtum in erster Linie auf Zucker gründete, wurde ab dem 16. Jahrhundert zum Knotenpunkt des transkontinentalen Sklavenhandels und später zum Hort afro-brasilianischer Kultur.
Das Museo do Arte Popular wurde im November 1963 mit der programmatischen Ausstellung Zivilisation des Nordostens eingeweiht. Diese Ausstellung verfolgte das doppelte Ziel, einen Überblick über das gestalterische Schaffen des brasilianischen Nordostens zu vermitteln und die Grundlage für eine lokale Industrialisierung oder eine „Modernisierung von unten“ zu bilden. Es ging bei dieser Ausstellung also nicht um erlesene Objekte, die der Auratisierung harren, sondern um Alltagsgegenstände – jene Dinge, die von der tiefen Armut und Rückständigkeit der Region, doch auch vom schieren Überlebenswillen, dem Improvisationsvermögen und der Poesie ihrer Menschen zeugen: schlichte, mit afrikanischen Ornamenten bemalte Tonschalen; grob geschnitzte Ex-Votos [Dankesgaben]; riesige Holzlöffel zum Umrühren der Moqueca [baianischer Eintopf]; Öllampen, gefertigt aus kaputten Glühbirnen oder Konservendosen, sowie aus Stoffresten zusammengenähte Kleider und Bettdecken.
Als Ausstellungsort hatte Bo Bardi die Solar do Unhão gewählt, einen Gebäudekomplex direkt an der Atlantikküste, der in seiner wechselvollen Geschichte schon als Sklavenquartier, Zuckersiederei, Tabakfabrik und Munitionsdepot gedient hatte und den sie durch wenige behutsame Eingriffe ausstellungstauglich machte. Noch heute bezeugt die Anlage sinnfällig das Ineinandergreifen von kolonialer Herrschaft, Überseehandel und christlicher Kirche: am Pier langten die Sklaven an, in der Kirche wurden sie getauft, in den Barracken untergebracht und auf dem Vorplatz veräussert.
Im April 1964, ein knappes halbes Jahr nach seiner Eröffnung, wurde das Museo do Arte Popular wieder geschlossen – infolge privater Intrigen und eines Militärputsches, der Brasiliens Aufbruchseuphorie nach dem Zweiten Weltkrieg jäh beendete. Die Sammlung von ehedem verschwand in Holzkisten im Keller eines Regierungsgebäudes in Salvador und ward Jahrzehnte nicht mehr gesehen.
Welchen Sinn könnte es haben, diese Kisten heute wieder zu öffnen und die angestaubten Dinge dem Zürcher Tageslicht auszusetzen?
Welche Impulse erfahren die gegenwärtigen Debatten über die kulturelle Globalisierung durch das Museo do Arte Popular? Bo Bardi hatte weder das Interesse, das Unverständliche und Fremde der nordöstlichen Zivilisation zu exponieren, noch war ihr daran gelegen, solche eher rohen Artefakte wie Holzmörser, Keramikvasen, Flechtkörbe oder Votivgaben als „Meisterwerke“ zu verklären und dem westlichen Kanonisierungsschema einzupassen. Das Zielpublikum des Museo do Arte Popular waren schliesslich Menschen, die jene Dinge, die das Museum ausstellte, ohnedies zu Hause hatten und täglich benutzten, die sich über das lebendige, schöpferische Moment dieser Dinge aber nicht unbedingt im Klaren waren. Zum Zielpublikum rechneten jedoch auch die Architektur- und Designstudenten, die am Leitfaden dieser Objekte den Charakter der nordöstlichen Zivilisation erfassen lernen sollten. In beiden Fällen bildete das Museum die Basis für eine selbstbestimmte Bearbeitung der Welt.
Der Wunsch nach einer Anerkennung der Kultur des Nordostens und ihrer „Ästhetik des Hungers“ (Glauber Rocha) ist historisch eng verknüpft mit den umfassenden Modernisierungskampagnen, die in den 1950er Jahren initiiert worden waren. Das erklärte Ziel des damaligen Präsidenten Juscelino Kubitschek lautete, Brasilien in einen entkolonialisierten, modernen Staat zu verwandeln, der dem Westen die Stirn bieten konnte. Das wohl bekannteste Produkt dieser Planungsphantasien ist Brasilia, die in Rekordzeit errichtete Retortenstadt mitten im kargen Landesinneren. Bo Bardi wiederum, die als italienische Einwandererin 1946, also unmittelbar nach Kriegsende und dem Zusammenbruch von Mussolinis imperialem Kartenhaus, nach Brasilien gekommen war, misstraute diesem dirigistischen Furor einer „Modernisierung von oben“ zutiefst. Wie viele ihrer Landsleute (die italienischen Nachkriegsarchitekten oder neorealistischen Filmemacher beispielsweise) orientierte sie sich an der marxistischen Praxistheorie von Antonio Gramsci, dem Mitbegründer und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, der nach seiner 1926 erfolgten Verhaftung durch Mussolini seine bedeutendsten Schriften im Gefängnis abfasste.
Zu den zentralen Streitpunkten zwischen Gramsci und Mussolini gehörte der ungelöste Konflikt zwischen dem reichen, industrialisierten Norden Italiens und dem verarmten Süden, dem mezzogiorno. Während die Faschisten diesem Konflikt mit nationalistischen Entwicklungsprogrammen beizukommen suchten, hatte Gramsci früh erkannt, dass der Kampf für eine Erneuerung der Gesellschaft und ihrer Kultur nur dann erfolgreich sein kann, wenn er seine „Wurzeln schlägt im Humus der Volkskultur, so wie sie ist, mit ihren Vorlieben, ihren Bestrebungen usw., mit ihrer moralischen und intellektuellen Welt, auch wenn diese rückständig und konventionell ist“ (Gefängnishefte Nr 15, § 58). Eine emanzipatorische Praxis, so Gramscis These, muss vom Alltagsverstand und den bestehenden Praxis- und Wissensformen der einfachen Bevölkerung ausgehen.
Eben diese Lektion übertrug Bo Bardi auf den brasilianischen Nordosten. Vieles hier dürfte sie an den mezzogiorno erinnert haben: die poetische, agrarisch geprägte Volkskultur ebenso wie die haarsträubenden Strukturprobleme, und nicht zuletzt das Ungleichgewicht gegenüber dem reichen industrialisierten Süden, dem Brasilien der weißen Elite, die grosso modo dem Milieu der europäischen Einwanderer des 19. und 20. Jahrhunderts entstammte.
Wenn es eine Moderne für Brasilien geben soll, so Bo Bardis Überzeugung, dann muss es eine Moderne sein, die nicht einfach nur die europäischen Kulturideale nachahmt, sondern die bei den Praktiken, Gewohnheiten und schöpferischen Energien der Bevölkerung ansetzt.
Mit ihrem Plädoyer für eine Modernisierung von unten stand Bo Bardi nicht allein; ihre Initiative war eingebettet in ein breiteres künstlerisch-intellektuelles Milieu, das sich mit den gleichen Fragen plagte. 1961 etwa hatte sich in Recife das MCP, die Bewegung der Volkskultur, gegründet. Zu deren Initiatoren gehörte unter anderem der Philosoph und Pädagoge Paulo Freire, der mit seiner „Pädagogik der Unterdrückten“ ganz ähnliche Ansichten vertrat wie seinerzeit Gramsci. Auch Freire wandte sich gegen die Vorstellung, wonach Lernen in der Übernahme eines festgelegten Bildungskanons besteht. Er sprach sich für ein emanzipatorisches Pädagogikmodell aus, das mit dem praktischen Alltagswissen der Lernenden arbeitet und sie darin bestärkt ihren eigenen Weg der Selbstbefreiung zu bahnen. Mit diesem Ansatz führte er Anfang der 1960er Jahre erfolgreich Alphabetisierungskampagnen durch, bevor er nach dem Militärputsch ins Schweizer Exil gehen musste.
Die Zusammenstellung jener Sammlung, die das Museo do Arte Popular präsentieren sollte, entstammte ebenfalls einer kollektiven Anstrengung, an der beispielsweise das Museum der Universität Céara unter der Leitung von Livío Xavier beteiligt war. Künstlerfreunde und Anthropologen verzeichneten auf den Landkarten des Nordostens die Orte, die berühmt waren für ihre Ex-Votos, ihre Keramik oder ihr Flechtwerk. Ausgerüstet mit diesen Landkarten bereisten Lina Bo Bardi und ihr Mann, Pietro Maria Bardi (der eine eigene Ausstellung verdient), seit den 1950er Jahren das nordöstliche Hinterland, um die Kultur ihrer neuen Heimat zu ergründen.
Ihre Aufmerksamkeit galt dabei weniger den einzelnen Individuen, ihren Volksmythen oder Ritualen, wie sie vom klassischen ethnologischen Blick erforscht werden. Die Bardis konzentrierten sich stattdessen auf die scheinbar unbelebte Formen- und Materialsprache der alltäglichen Dingwelt. Ihr Archiv vermittelt den Eindruck, als wollten sie den Zustand der Gesellschaft aus der Konsistenz, Textur und Ordnung ihrer Dinge ablesen.
Die systematische Bestandsaufnahme der materiellen Zivilisation des Nordostens bildet die Grundlage für Bo Bardis erste und letzte Ausstellung in der Solãr do Unhao. Dabei verfuhr sie betont nüchtern: statt die Dinge in ihrem alltäglichen Gebrauchszusammenhang zu zeigen, ähnelt das Display einem wissenschaftlichen Tableau, das die verschiedenen Dinggruppen nach Familienähnlichkeiten identifiziert, miteinander vergleicht und zueinander in Beziehung setzt. Wie schon einleitend erwähnt, begnügte sich dieses Tableau nicht damit, einen Überblick über die „Zivilisation des Nordostens“ zu geben. Es eröffnete zugleich einen Möglichkeitsraum, der die formalen wie praktischen Ressourcen für eine künftige, emanzipatorische Moderne birgt. Tatsächlich hatte Bo Bardi auf dem Gelände der Solãr do Unhao die Einrichtung von Werkstätten sowie eine Designschule geplant, deren Studenten sich an der erdigen Materialität der Sammlung abarbeiten sollten, um vor utopischen Höhenflügen oder Schnickschnack gefeit zu sein.
Zugleich verhalf das Display dem lokalen Publikum zu einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Kultur. Denn die museale Präsentation zielte auf eine Nobilitierung – eine Nobilitierung all der Dinge, die als plump, ungekonnt oder, wie Bo Bardi selbst es nannte, „vor-handwerklich“ abgetan wurden, bevor man ihren ästhetischen Behauptungswillen auch nur erfasst hatte. Mit der Nobilitierung der Dinge ging die Nobilitierung jener Lebenswelt einher, der diese Dinge entstammten.
Im Sinne dieser Verknüpfung lässt sich der einzige echte architektonische Eingriff, den Bo Bardi im Gebäude vornahm, deuten. Die Rede ist von der herrlichen Freitreppe, die das Erdgeschoss mit dem ersten Stock verbindet und deren Holzelemente in traditioneller Technik wie bei Ochsenkarren zusammengesteckt sind. Diese Treppe war genau jenen zugedacht, deren In-Erscheinung-Treten Brasiliens rassistische Bourgeoisie bekämpfte und die über Jahrhunderte ein negatives Selbstbild verinnerlicht hatten.
Das Museo do Arte Popular, um eine erste Summe zu ziehen, arbeitete keiner Stillstellung der Artefakte zu. Es war aber auch kein Mitmachmuseum. Sein Display, einschliesslich der Treppe, suchte die Artefakte als zivilisatorische Akteure freizusetzen und sichtbar zu machen.