Ausstellung

Kaffee aus Helvécia

Kuratiert von Marcelo Rezende und Eduardo Simantob
29.8.2017 bis 28.1.2018 | Johann Jacobs Museum

Eine der grössten Kaffeeplantagen des 19. Jahrhunderts, gelegen im brasilianischen Nordosten, war fest in schweizerischer Hand. Was genau sich dort zutrug, ist aber weitgehend unbekannt. Der heutige Zustand von Helvécia jedenfalls gibt kaum Aufschluss über die freiwilligen und unfreiwilligen Arbeits- und Lebensformen, die sich damals zwischen den europäischen Einwanderern und afrikanischen Sklaven sowie deren freien Nachkommen entwickelt haben.

Gut ein Jahrhundert später wird eine andere Kaffeeplantage Schauplatz eines gesellschaftlichen Experiments; der brasilianische Architekt und Schriftsteller Flávio de Carvalho (1899-1973) begründet auf der Fazenda Capuava Ende der 1930er Jahre eine unabhängige Republik für „nackte Menschen“ (d.h. für Menschen, die es ablehnen nach sozialer oder ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Geschlecht usw. kategorisiert zu werden).

Formen von Gemeinschaft, die sich aus Migrationsschicksalen, Sklaverei, Güternachfrage, Arbeitsverhältnissen und utopischen Phantasien ergeben, stehen im Zentrum dieser Ausstellung. Bestückt mit Dokumenten aus brasilianischen Archiven, Aquarellen aus der Pinacoteca und Artefakten aus dem Museu Afro Brasil in São Paulo sowie einer zeitgenössischen Video- und Textilarbeit der Künstlerin Denise Bertschi wird ein zentrales Kapitel der Schweizer Kolonial- und Verflechtungsgeschichte beleuchtet.

 

Konzept: Marcelo Rezende (Direktor des Archivs der Avantgarden in Dresden) mit Eduardo Simantob

In Zusammenarbeit mit der Pinacoteca São Paulo und dem Museu Afro Brasil und unterstützt von Aargauer Kuratorium, Goethe Institut, UFSB-Universidade Federal do Sul da Bahia.

 

Titelbild: Bosset de Luze, Fazenda Pombal, Colonia Leopoldina in Bahia, zwischen 1820 und 1840, Aquarell auf Papier, 36,3 x 61,1 cm, Sammlung der Pinacoteca do Estado de Sao Paulo in Brasilien, Schenkung: Fundação Estudar, 2007

Veranstaltungsprogramm

Bemerkungen zu „Kaffee aus Helvécia“

von Marcelo Rezende
I.

Es war im Mai 2014. Im Museum Moderner Kunst von Bahia (ein Bundesstaat im Nordosten Brasiliens, dessen Hauptstadt Salvador die erste Hauptstadt des portugiesischen Kolonialreichs wurde), dessen Direktor ich damals war, bekam ich Besuch von einer älteren Dame mit offenbar europäischen Wurzeln. Sie legte mir ein Buch vor, dessen vergilbte, zum Teil brüchige Seiten die Geschichte der Colônia Leopoldina (1818) erzählten. Diese Kolonie war die erste erfolgreiche Siedlung, die Schweizer und Deutsche in Brasilien gegründet hatten, wobei „erfolgreich“ hier so viel bedeutet wie „profitabel“. Der Kaffee, der auf den riesigen Ländereien unter Einsatz von Sklaven angebaut wurde, sollte sich als Exportschlager erweisen.

Die Leopoldina liegt an der Südspitze des Bundesstaates Bahia. Als die schweizerischen und deutschen Siedler in Brasilien eintrafen, bestand die Bevölkerung zu einem guten Drittel aus westafrikanischen Sklaven, die im Rahmen des Dreieckshandels verschleppt worden waren. Immer wieder kam es zu Sklavenaufständen; die Grundbesitzer lebten in einem Zustand ständiger Bedrohung.

Die schweizerischen und deutschen Siedler wurden einerseits wegen ihrer landwirtschaftlichen Erfahrung ins Land geholt. Es ging darum aus dem Boden das Optimum herauszuholen. Andererseits war das brasilianische Herrscherhaus daran interessiert, europäische „Zivilisation“ zu importieren. Die Legende von Helvécia fusst auf einem Gesellschaftsmodell, dem zufolge die Sklaven wie Arbeitskräfte und nicht wie Tiere behandelt wurden. Sklaven durften Familien gründen und ein Handwerk (wie das Tischlern) erlernen. Sie kamen sogar in den Genuss von Rechten.

So jedenfalls will es die Legende, wie sie von den Herren kolportiert wird.

II.

Die Colônia Leopoldina erinnert mit ihrem Namen an die österreichische Gemahlin des portugiesischen Thronerben. Nach dem Zuckerrohr und dem Gold-Boom, war die Kaffeebohne dazu bestimmt als weiteres Juwel die Krone des brasilianischen Imperiums zu zieren. Brasilien wurde 1822 von Portugal unabhängig. Die Leopoldina bestand damals aus 51 Plantagen (fazendas), von denen eine „Helvetia“ hiess.

Laut Hermann Neeser, dem Verfasser des Buches A Colônia Leopoldina (1951), kann als Urheber der oben erwähnten Legende des „egalitären Gemeinwesens“ der ehemalige Arzt von Helvécia, Carlos Augusto Toelsner (um 1850) gelten. Tatsächlich wissen die diversen Dokumente der Zeitzeugen von keinerlei Unruhen oder Gewalt zu berichten. Ausser Kraft gesetzt waren offenbar auch die damals üblichen Umgangsformen zwischen der Herrenklasse und den rund 2.000 Sklaven, die unter ihr lebten.

Was genau von der Toelsner’schen Legende zu halten ist, erscheint unklar. Sie wurde nie ernsthaft in Frage gestellt. So etwas wie eine Gegenerzählung existiert bis heute nicht. Im Rahmen der Vorbereitung zu dieser Ausstellung reiste die Schweizer Künstlerin Denise Bertschi mehrmals nach Helvécia, um der Legende auf den Grund zu gehen.

Die Künstlerin sprach mit den Leuten vor Ort und vergrub sich für Wochen in tropischen Archiven. Sie liess sich im Busch zu Stellen führen, die lange schon überwuchert sind, darunter der Friedhof, auf dem Schwarze und Weisse Seite an Seite ruhen. Sie filmte auch die heutige Landwirtschaft mit ihren Reihen von Eukalyptusstämmen, die der Erde das Wasser und jegliche Nährstoffe entziehen. Und sie erkannte in den weissen Gewändern der AnhängerInnen des Candomblé (einer brasilianischen Volksreligion, die sich stark aus afrikanischen Religionen speist) jene Lochstickereien wieder, die ihr bestens vertraut waren – als St. Galler Textilkunst. Die Stickerei war im 19. Jahrhundert einer der dominanten Wirtschaftszweige der Schweiz und begleitete die Auswanderung nach Brasilien.

Die Dokumente, auf die Bertschi in den Archiven von Salvador stiess – löchrige und zerschlissene Papiere, welche die Namen der Auswanderer verzeichnen, die Grösse ihres Sklavenbesitzes, aber auch Berichte der Schweizer Konsulate in Salvador und Leopoldina –, haben die Künstlerin zur Anfertigung des grossen Tischtuchs inspiriert. Das Tischtuch verbindet die löchrigen Dokumente mit der Ästhetik der Lochstickerei.

III.

„Jede Ruine bewahrt die Erinnerung an das Unvollendete. Deshalb bedarf eine echte Archäologie des wilden oder voraussetzungslosen Blicks auf die Vergangenheit“, bemerkte in den 1930er Jahren der brasilianische Künstler Flávio de Carvalho (1899-1973). Als ein vielseitiges Talent – de Carvalho war Architekt, Maler, Designer, Schriftsteller, Performer und vieles mehr –, beliess es der Künstler nicht bei dieser Bemerkung, sondern entwarf seine eigene Ruine. Genauer gesagt, er entwarf eine Utopie, die sich heute als Ruine darstellt.

Die Fazenda Capuava, gelegen in der Nähe von São Paulo, war eine brachliegende Kaffeeplantage. Sie gehörte zum Familienbesitz der Carvalhos. Als sich Flávio Ende der 1930er Jahre zur Gründung einer autonomen Republik entschloss, wählte er dieses Gelände für seinen Architektur- und Gesellschaftsentwurf. Alles sollte hier erlaubt sein: neue Bau- und Lebensformen, experimentelles Design, sexuelle Freizügigkeit und dergleichen mehr. Tatsächlich funktionierte das Ganze über viele Jahre als Treffpunkt der Bohème und nahm in vielerlei Hinsicht die modernistische Phantasie der späteren Hauptstadtgründung „Brasília“ (1960) vorweg.

Nach dem Tod des Künstlers begann die Plantage zu verwahrlosen. Heute bildet sie nicht mehr als eine Fussnote innerhalb der langen Geschichte gescheiterter Utopien in tropischen Gefilden.

De Carvalho rechnet zur ersten Generation brasilianischer Modernisten. Diese Gruppe avantgardistisch gesinnter Künstler und Intellektueller nahm die zügige Industrialisierung des Landes zum Anlass, nach Antworten zu suchen auf Fragen wie: „Gibt es eine brasilianische Identität jenseits des europäischen und kolonialen Erbes?“

Das Archiv von Flávio ist bis heute nicht aufgearbeitet. Daher können wir mit dieser Ausstellung nicht mehr tun als Hinweise auf seine utopischen Entwürfe zu geben (die Diaprojektion in der Galerie zeigt neben dokumentarischen Aufnahmen von recht mondänen Partys auf der Fazenda auch Fotos, die im Rahmen seiner Amazonasreise entstanden, sowie Architektur- und Denkmalentwürfe, etwa für ein „Kaffeedenkmal“). Wir denken aber, dass sich diese kleinen Einblicke mit den Gouachen und Objekten aus der Pinacoteca und dem Museu Afro Brasil gut vertragen. Alle drei Werkgruppen offenbaren ein spezifisch brasilianisches Gemenge aus Sklaverei, Modernismus, Sehnsucht nach Europa und afrikanischer Formensensibilität.

Exponate

Das Archiv des Künstlers Flávio de Carvalho befindet sich im Dokumentationszentrum der Universität Campinas (Brasilien). Die Auswahl an Bildmaterial und Textfragmenten, die wir zeigen, verdankt sich verschiedenen künstlerischen und architektonischen Projekten. Darunter sind Aufnahmen einer Reise in den Amazonas, wo Flávio nach einer weissen Göttin suchte (so das Skript für eine Doku-Fiktion), und Entwürfe für ein Kaffee-Monument, das nie errichtet wurde. Sein Gästebuch verzeichnet die Besucherinnen und Besucher der Fazenda Capuava, auf der Flávio eine modernistische „Republik“ gründete.

Die zwei Porzellanschalen aus dem 19. Jahrhundert zeigen Darstellungen des brasilianischen Lebens. Die Vorlagen stammen von dem französischen Maler Jean-Baptiste Debret (1768-1848). Debret, ein Schüler des neoklassizistischen Malers und früheren Revolutionärs Jacques-Louis David, bereiste Brasilien ab 1816 und half dem dortigen Herrscherhaus bei der Gründung einer Kunstakademie in Rio de Janeiro. Zurück in Paris, publizierte er 1831 seine Voyage Pittoresque et Historique au Brésil, die in mehreren Bänden den brasilianischen Alltag samt Sklavenwirtschaft, das gesellschaftliche Leben sowie die Flora und Fauna des gewaltigen Landes ausbreitet.

Der brasilianische Bildhauer Agnaldo Manoel dos Santos (1926 – 1962) verknüpft verschiedene Einflüsse, darunter die konstruktivistischen Elemente des Modernismus, die lokale Schnitzkunst der Carrancas (Bugfiguren von Schiffen auf den grossen Flüssen Brasiliens), die stark geprägt ist durch portugiesischen Barock, sowie die Formensprache nigerianischer und angolanischer Masken, die dos Santos aus Bildbänden und Ausstellungen kannte.

Der Mundverschluss, ein massives Eisengestell, dient der Bestrafung aufsässiger Sklaven. Es wurde am Hals sowie auf der Höhe des Kiefers fixiert. Geschmiedet wurden solche Geräte meist von den Sklaven selbst.

Jede einzelne der Votiv-Gaben geht auf ein individuelles Gelöbnis zurück. Der Arm schmerzt oder ist verletzt, wird nach eindringlichem Gebet aber auf wundersame Weise von der Madonna (oder einer anderen spirituellen Machtfigur) geheilt. Als Dank wird der symbolische Ersatz des Körperteils, mal mehr, mal weniger kunstvoll geschnitzt, in der Kirche oder Kapelle aufgehängt. Der Katalog der hölzernen Dankesgaben umfasst, wie nicht anders zu erwarten, sämtliche menschlichen Körperteile. Für diese Ausstellung hat sich der Kurator auf Arme beschränkt, denn sie waren das primäre Arbeitsinstrument des Plantagenvolkes.

Der Saci perere ist eine kindliche Figur, in der sich die Fabeln dreier Kulturen überlagern. Er ist ein in Brasilien populäres Zauberwesen – ein Joker, der nach Belieben auftaucht und wieder verschwindet, und dabei Streiche spielt. Er hat ein Bein, drei Finger an der Hand, einen kleinen Schwanz, und raucht Pfeife. Das andere Bein hat er der Legende nach beim Capoeira (einem Kampftanz mit afrikanischen Wurzeln) eingebüsst. Seine rote Kappe geht auf die Kleidung der jesuitischen Missionare zurück. Dokumentiert ist der Saci perere seit dem 18. Jahrhundert; im Portugiesischen bedeutet der Name, der aus der Sprache der Tupi Guarani übernommen ist, „indigenes Kind“. Das 20. Jahrhundert kennt den Saci perere aus den Kindergeschichten von Monteiro Lobarto sowie den Comics von Maurício de Souza.

Die Puppen stammen aus verschiedenen Perioden des 20. Jahrhunderts. Das lässt sich auch an ihrer Kleidung ablesen.

Mit dem massive Rundstück (19. Jh.) wurden die Innenflächen der Hand geschlagen. Dabei verhindert das Loch in der Mitte, dass der Luftdruck den Aufprall mildert.

Ähnlich virtuos wie Agnaldo verbindet Emanoel Araujo in seinem Halbrelief Maske (2007) unterschiedliche, ja eigentlich inkompatible Formensprachen, die, locker gesprochen, dem Barock und dem Industriezeitalter entsprechen. Zur Glätte der geometrischen Konstruktion, deren Modernismus durch Primärfarben betont wird, gesellt sich eine mit Eisennägeln beschlagene, nahezu roh belassene schwarze Holzfläche. Durch die Nagelfelder wird diese Fläche in die dritte Dimension getrieben und damit in die Nähe der modernistischen Konstruktion gezwungen. Die rasterförmig angeordneten Nägel erwachsen dem silbrig aufgespritzten Zackenmuster.

Mit diesen bunten Wagen wird in den Straßen von Salvador da Bahia Kaffee oder Kakao verkauft. Aus den integrierten Lautsprechern dröhnt brasilianische Pop-Musik. Kunstvolle Bilder von Salvador – darunter der moderne Personenaufzug, der die Unterstadt mit der Oberstadt verbindet, oder die barocken Kirchenfassaden aus der Zeit der portugiesischen Kolonialherrschaft – zieren das Gefährt. Hinzu kommen Heiligenbildchen oder deren erotische Pendants, populäre Musiker, unsterbliche Fussballgötter und so weiter.

Die drei Aquarelle des schweizerischen Malers Jean Frédéric Bosset de Luze (Genf 1754 – 1838) entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dokumentieren die Gründungsphase der Kolonie Leopoldina. Während zwei Darstellungen einen topografischen Blick auf die Anlage zeigen, versucht sich das dritte, ganz in Brauntönen gehalten, an der Schilderung der Atmosphäre. Der Blick folgt dem breiten, von Bäumen beschatteten Weg zum Herrenhaus, dessen Tür offensteht, und schildert an den Bildrändern idyllische Arbeitssituationen: eine Frau, die einem Arbeiter, beide wohl afrikanischer Herkunft, eine Kalabasse zum Trinken anbietet sowie eine Gruppe von Arbeitern, die Kokosnüsse ernten. Bei den Topografien fasziniert die Darstellung mit der ausführlichen Legende, welche die gesamte untere Bildhälfte ausfüllt. In einer Schrift, die auf Grund der Fülle an Informationen zum Ende hin immer enger verläuft, werden die Grundelemente der Anlage benannt, darunter 1) die warme Küche, 2) das Kaffeelager, 8) und 9) die Herrenhäuser, c) ein Weg, den Orangenbäume säumen, g) ein Feld mit Aloe Vera-Pflanzen, h) ein Feld mit Maniok (eine Pflanze, deren Knollen ein wichtiges Nahrungsmittel bildet), und q) ein kleiner Hafen. Ein zarter Bleistiftpfeil im Wasser des Flusses gibt die Fliessrichtung an.

Arbeiten von Denise Bertschi

Die Künstlerin Denise Bertschi steuert zu dieser Ausstellung verschiedene Arbeiten bei, die wie eine Werkgruppe verstanden werden können.

Die grossformatigen Fotografien sind in Bahia sowie auf der Fazenda Capuava entstanden. Sie zeigen den heutigen Zustand der einstigen „Republik“, die Flávio de Carvalho (1899-1973) ab den späten 1930er Jahren hier errichtete.

Die Videoinstallation mit drei Monitoren dokumentiert die Situation im heutigen Helvécia im Süden von Bahia. Die kleine Siedlung ist heute eine staatlich anerkannte „Quilombola“ – eine Niederlassung ehemaliger oder entflohener Sklaven. Ihr aussergewöhnlicher Name geht auf die Kolonialzeit zurück. Ursprünglich war die Fazenda Teil einer grossen Kolonie namens „Leopoldina“, die von Schweizern und Deutschen 1818 gegründet worden war und sich binnen kürzester Zeit zu einer der weltweit grössten Kaffeeplantagen entwickelte. Ohne die Arbeit von rund 2000 Sklaven wäre das nicht möglich gewesen.

Die Zeiten des Kaffeebooms sind lange vorüber. Heute erinnert kaum etwas an die Schweizer Machenschaften in Bahia. Die Geschichte scheint überwuchert. Umso schlagender sind jene Dinge, die im Ungefähren aufblitzen: ein Orangenbaum weist den Weg zu einem längst vergessenen Friedhof, den der Legende nach Weisse und Schwarze teilen. Eine Porzellanscherbe gibt einen Hinweis auf den Reichtum der ehemaligen Gutshäuser. Ein ausgedienter Hafen gemahnt an die Sklaven- und Güterverschiffung.

Heute liegt Helvécia mitten in einem Anbaugebiet für Eukalyptus, einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Brasilien eingeführten, äusserst invasiven Pflanze, die zwar schnell wächst und viel Holz abwirft, den Boden aber auslaugt.

Die Textilarbeit von Denise Bertschi zieht sich um den Rand des Tisches in der grossen Halle des Museums. Die Stickerei benutzt als Vorlage verschiedene Dokumente aus der Hochphase des schweizerischen Kolonialismus, darunter die Korrespondenz zwischen den staatlichen Stellen in Bahia und Bern, Embleme der schweizerischen Konsulate in Salvador und Leopoldina sowie die Auflistungen des Nachlasses eines auf Leopoldina verstorbenen Schweizer Plantagenbesitzers. Zu dessen Besitztümern zählten neben 100 Kilometern Kaffeeplantagen auch 150 Sklaven.

Die tropischen Archive, in denen Bertschi auf ihrer Suche fündig wurde, stellen keine geeigneten Aufbewahrungsorte für solche Dokumente dar. Eher tragen sie dazu bei, Papier in ästhetische Natur zu verwandeln und Geschichte aufzulösen. Die halb zerfallenen Briefe und Dokumente bestehen im Wesentlichen aus Leerstellen – ähnlich wie die kunstvolle St Galler Lochstickerei, die Anfang des 20. Jahrhunderts maschinisiert wurde. Brasilien gehörte zu den ersten Abnehmern dieser neuen Stickmaschinen. Noch heute findet sich St.Galler Spitze in den weißen Festgewändern für Condomblé-Zeremonien. Während die prekären Archive also auf Seiten derjenigen stehen, die die Kolonialgeschichte zu verdrängen suchen, hält der künstlerische Zugriff die Erinnerung fest.

Auch wenn die Blütezeit der Schweizer Kaffeeplantagen längst der Vergangenheit angehört, sind in den Erzählungen der Bewohner Helvécias die schmerzlichen Erinnerungen an die Sklaverei noch immer lebendig. Sie zeichnen ein anderes Bild von dem Leben auf der Plantage als die durchweg positiven Berichte und Beschreibungen, die man in den offiziellen Archiven und Bibliotheken findet.

 

 

 

Mit freundlicher Unterstützung von